Montag, April 27, 2009

Was ist mythos?

Die Geschichte des mythos ist gekoppelt mit dem Bewusstsein des Menschen. Der mythos in Reinform umfasst noch das gesamte menschliche Denken, von der Sinnsuche über die Welterklärung bis zum Selbstbewusstsein. Der Mensch war mitten im mythos, als Spieler des Weltspiels, und unter ihm, als Produkt der Naturereignisse, die mächtiger waren als er und ihn ängstigten.

Dort ist auch die Quelle gelegen, die Notwendigkeit eines starken mythos: Affekte, Angst. Die Angst vor der Welt, in der er lebte, und dem Bewusstsein, diese Welt erfassen zu können, ergründeten den mythos. Das dialektische Gleichgewicht dieser beiden Komponenten menschlichen Geistes geben ein seltsames, für den Menschen charakteristisches und den mythos notwendiges Gesetz: Das Verhältnis der Angst im menschlichen Bewusstsein steigt mit dem Rückgang des Wissens, und umgekehrt.

Gut aufgehoben in Sinn und Welterklärung blieb der mythos konkurrenzlos zu allen Dingen im menschlichen Bewusstsein; die Antwort nach dem Sinn des Lebens wurde schon vor der Frage beantwortet, vielmehr: die Frage stellte sich erst gar nicht.

Die Entwicklung der Sprache, gewissermaßen das Pressen der Laute in eine grammatikalische Struktur, erschuf den logos, der sogleich als Konkurrent zum mythos aufkam. Die Rettung des mythos vor dem wuchernden logos, der alternative, dem Bewusstsein in seinem Streben nach logischer Konformität schmeichelnde Erklärungsmuster für das Weltgeschehen bot, verkehrte den Sinn in neue Geltung: Die Philosophie war geboren mit der Frage nach dem Sinn des Lebens als Emanzipation des Menschen von seinen selbst erschaffenen Göttern, deren Herkunft aber längst vergessen war. Man wollte nun wissen, was sich die Götter dabei gedacht haben, und wenn diese schon als Welterklärer gegen simple, aber tragfähige Weltmasken des logos (die Theorien des Parmenides, der Atomismus Demokrits etc.) ersetzt worden waren, so war die Basis der Frage nach einem Sinn erst recht erbracht. Wobei der mythisch lancierte Begriff „Weltmaske“ durchaus so gedacht ist, denn die naturwissenschaftlichen Positionen der Antike waren oft Mythen im „naturalistischen Gewand“. Die Natur wurde zu dem Schlüssel der Klärung der nun schon quälenden Fragen der Existenz ernannt, wobei das Denken der Griechen noch nicht komplett logisch erfasst war, da sie nicht nach dem Ursprung aller Dinge fragten.

Die Rettung der alten Mythen wurden durch die Verschriftlichung vor der Zerstörung bewahrt, Homer und andere „große Griechen“ waren also keine produktiven Dichter, sondern reproduktive zur Rettung der alten Mythen, zur Beibehaltung des Status quo in dem Herrschaftssystem der Sklaverei und der Unterdrückung. Die mythischen Elemente der Ilias und der Odyssee, zurecht als Wurzel der europäischen Dichtung betrachtet, weisen vollständig die Bandbreite menschlichen Fühlens dar, gewissermaßen auf klassischem Niveau: Von den beiden ureigensten positiven Polen menschlicher Gefühle (die Liebe und die Hoffnung; nicht zuletzt auch im Christentum verifiziert) erzählen diese Zusammenfassungen der griechischen Mythologie.

Die Religionen machten sich nun den mythos zu eigen und erbauten auf diesen undifferenzierten, vagen Geschichten und Erzählungen aus alter Zeit ihr Geheimnis, welches sie attraktiv machte. Der mythos wurde eingegrenzt, moralisch umgedeutet (oder überhaupt gewertet) und in ein übergeordnetes System eingebaut. Der Monotheismus, als von psychologischen Einwänden resistenteste Religion, trat seinen Erfolgszug an - mit dem logos und dem mythos im Gepäck. Während Thomas von Aquin den logos mit dem Christentum versöhnte, erweiterten auf der anderen Seite Plotin und Meister Ekkehart das Christentum um die mythische Komponente. Der ständige Rückbezug auf den allumfassenden Gott, der sowohl mythisch als auch logisch zu begreifen ist, ja, begreifbar sein muss, ließ sowohl dem Wissenschaftler als auch dem einfachen, dem mythos nahe stehenden Menschen Zugänge zum Christentum.

Dennoch war der Siegeszug des logos nicht aufzuhalten: Die modernen Wissenschaften verdrängten den mythos aus seinen welterklärenden Funktionen, übrig blieb nur noch die Sinnstiftung. Das Warum des Sinns wurde in mehreren Stufen dekonstruiert: Erst entrückten Kepler, Galilei und Kopernikus den Menschen aus seinem geozentrischen Anthropozentrismus und warfen den Menschen mit seiner lieben Erde in eine höchst unmythische irgendeine Ecke eines unendlich großen Weltalls. Darwin entrückte den Menschen aus seiner einmaligen Position als Krone der Schöpfung und stellte ihn als vorläufigen, „nackten Affen“ einer immer fortgehenden Evolution dar. Und im letzten Jahrhundert entdeckten Physiker die Unzulässigkeit von „Gottes Plan“, dem Determinismus, und nannten dies „Unschärferelation“. Allgemein sind mythische Tendenzen innerhalb der modernen Wissenschaften zu erkennen, die sich nicht helfen können, außer zu mythischen Begrifflichkeiten und Schlüssen zurückzugreifen. Als das Warum nun überfällig wurde, fiel auch das dem Warum innewohnende Wohin.

Das (kausal unabhängige) Wohin des Sinns starb dann mit dem Existenzialismus, der den Menschen von dem Fatum befreite und ihn der nackten Sinnlosigkeit aussetzte, mit der Forderung, sich selbst einen Sinn zu geben, der nicht das Warum sondern das Wohin erklärte. Der Kampf gegen die Sinnlosigkeit, von Camus erklärt und postuliert, kann nur durch die eigene Sinnproduktion gewonnen werden.

Freud, der die mythen nach allen Regeln der Psychoanalyse sezierte und so deren Wahrheitsgehalt und Aussageabsicht auf Triebstrukturen reduzierte, deren Funktion eingangs erklärt wurden, nahm ihm so das Mythische. Durch den Überfall des logos auf den mythos, dessen Analyse und Bloßstellung, ließen ganz neue Verhältnisse im Denken der Menschen zu: Der logos wurde unbedingt bejaht, weil nichts mehr da war, was Alternative bieten könne; das nannte man dann Fortschrittsgläubigkeit.

Es musste erst die Postmoderne kommen, wo der logos sich selbst relativiert und letzlich in die Auflösung treibt, indem er die Ökonomisierung des menschlichen Handelns, also das Wirtschaften, vorantrieb und gleichzeitig den ungezügelten Wildwuchs der Wissenschaften zuließ. Alles sei relativ, ethische Programme, die umfassend sein wollten, wurden per se abgelehnt, die Freiheit des einzelnen hing als neue Sonne über der aufgeklärten Welt, die schon im 18. Jahrhundert die Mythen mit aller Macht bekämpfen suchte und ihr Programm dann "Religionskritik" nannte. Dabei geht die Entwicklung des logos so weit, dass wiederum der Mythos als Denkrichtung Einfluss gewinnen kann, durch die Überwucherung der Vernunft und der Institutionalisierung der Philosophie, die ja in ihrer Definition auch die Auseinandersetzung des logos mit dem mythos untersucht, werden alle denkbaren Lesarten der Welt wieder zugelassen. Claude Lévi-Strauss, als einer der Disputanten des strukturalistischen Lagerfeuers, identifizierte das "wilde Denken" mit dem mythos und Paul Feyerabend lieferte die dazu passende anarchistische Wissenschaftstheorie. Gleichzeitig kümmerte sich Hans Blumenberg um den mythos in seinen Extremitäten, den allgegenwärtigen und absoluten Metaphern als Explikation impliziten Wissens und schrieb neben den Strukturalisten und den wissenschaftstheoretischen Anarchisten dem mythos wieder Erkenntnisfähigkeit zu. Der mythos hat also gewisse Eigenschaften, die sich in der heutigen Forschung wieder einbringen lassen.

Die Beherrschung des mythos scheint die größte Errungenschaft des 20. Jahrhunderts zu sein und ist ohne Zweifel auf die Logisierung des mythos zurückzuführen. Wer den Zaubertrick kennt, kann ihn nachmachen, lautet das Credo der heutigen Politik. Man machte sich das unendliche Sinnpotenzial, welches der Ursprung des ersten mythos ist, zu Nutze, um eine Masse von Menschen an den intendierten Sinn zu binden und so frei über sie verfügen zu können. Das Volk, geködert mit einem viel versprechenden mythos, der sich oft auch auf alte Generationen erinnert, dem kollektiven Bewusstsein entspricht oder eines erschafft, kann in seinen Prämissen nach dem Gewinn des Volkes beliebig verstellt werden, wohin das Volk, gewöhnt und geschmeichelt durch einen so „tiefen“ Sinn, beliebig folgen wird, um nur den Sinn nicht zu verlieren. Die großen Diktatoren wussten es, Sinngefühl zu erschaffen und das Volk abhängig zu machen. Diese Abhängigkeit des Volkes von Mythen, woran wohl auch die Aufklärung gescheitert ist und immer scheitern wird, die Lüsternheit des einfachen Menschen nach einfachen Welterklärungen, werden den mythos resistenter machen als den logos, der nur dem denkenden Menschen Zuflucht bietet.

Die aktuelle Zeit, in der der logos wie ein Motor wirkt, um sich immer schneller zu drehen und die Zeit immer schneller und effizienter werden zu lassen, entwickeln sich mini-mythische Züge, Nebenentwicklungen, Parallelentwicklungen. Das Unverständnis allein der allernächsten Umgebung mit Fragen wie „Wo kommt mein tägliches Brot her?“ oder „Wie funktioniert eine U-Bahn oder das Internet?“ erinnern in alarmierender Weise an die Fragen unserer Urahnen, die sich ebenfalls täglich mit der Herkunft ihrers Essens, dem Funktionieren des Gewitters und dem allgemein Lebensunterhalt konfrontiert sahen - und sich in Mythen flüchteten.

Heideggers Reden von der „Kehre“, wo unser Denken stattfindet, ist eingetreten, denn wir sind, wenn wir denken, bei den Dingen gelandet und ziehen die Dinge nicht mehr in unser Denken. Die Materie drängte unser Denken aus unseren Köpfen und platzierte sie auf den Gegenstand. Die Technik, als vom „denkenden Wesen“ erschaffene Verwirklichung des logos, ist außer Kontrolle geraten, die keiner wird wieder einfangen können. Der Mensch als Arbeitsteiler weiß nicht mehr, was der Mensch eigentlich macht. Sie verstehen nicht mehr die Arbeit ihres Nachbarn, weil ihnen die Ausbildung fehlt und auch das Interesse. Sie verstehen überhaupt nicht, wie irgendetwas funktioniert, weil sie möglicherweise nicht mal wissen, wie ihr eigenes Leben funktioniert. „Urbane Mythen“ lautet hier das Stichwort, in der nicht nur die Technik eine dem Menschenverstand weit entfernte Welt vordringt, sondern die Gesellschaft selber Eigendynamiken entwickelt, die kein Soziologe der Welt wird erfassen können. Verarbeitet wird dies in den Medien, die die Mythen unverarbeitet wieder auf den Menschen legen und ihn so in seinem kulturellen Erbe zu ersticken drohen. Die Kunst spiegelt das, was der Mensch produziert. Da er aber nicht versteht, was er produziert, wie sein zwischenmenschliches Zusammenspiel funktioniert, versteht er auch die Kultur und die Kunst nicht mehr. Das Hantieren mit dem mythos ist das, was den mythos charakterisiert: ein Spiel mit dem Dunkel.

So sehen wir uns mit einer Welt konfrontiert, die auf altbewährte, aus dem mythos stammende Techniken zurückgreift, nämlich der Avatarbildung und Fetischisierung. Avatare als personifizierte Probleme dienen als Erklärungsgrundlage der Welt. Hitler ist der Avatar für das Böse, das absolut Inhumane, und doch nur ein einfacher Erklärungsversuch dafür, dass Menschen so sein können. Klaus Zumwinkel ist der Avatar der Steuerhinterzieher, er stirbt am Kreuz für die Sünden aller, denn es ist schwierig zu begreifen, dass man selber moralisch beschränkt ist. Marilyn Monroe, als längst verstorbene Ikone, als Avatar, als Idol von Weiblichkeit, fraulicher Ästhetik und Eleganz. Komplexe Vorgänge wie Finanzkrisen werden auf Politiker und gierige Manager reduziert, weil der durchschnittlich informierte Mensch es in seinen Alltag einbauen muss. Der Fetisch ist Ausdruck des Unvermögens der Menschen, überhaupt etwas adäquat zu begreifen. So wird sich auf technische Eleganz und Markenmode konzentriert. Gewissermaßen erscheinen auch die Religionen als ein Fetisch des modernen Menschen. Eine Flucht vor dem wilden Treiben der Moderne, der unglaublichen Haltlosigkeit, dem Taumeln, von dem Nietzsche schon zu berichten wusste.

Der mythos als Phänomen der Postmoderne erscheint also so: Instrumentalisiert, in dem Mythen konkret erschaffen werden. Reduzierend, weil aus Hilflosigkeit und Erklärungsnot komplexe Prozesse auf Avatare und Fetische reduziert werden und die eigentlichen Vorgänge nicht verstanden werden müssen. Eigendynamisch, denn der Vorgang in den Großstädten, eben dieses Leben zu begreifen, läuft hinaus auf Zynismus und Resignation, wovor der Mensch sich nur durch Gerüchte und Erfindungen retten kann, urbane Mythen. Und zuletzt erscheint und der mythos in seiner ewigen Konkurrenz dem logos gegenüber als bevorteilt; denn der logos strebt nach vorn, er muss neue Ideen finden, verwerten, vorantreiben. Er lebt von dem Fortschritt, sein Wesen ist ökonomisch, denn es gibt kein logos um des logos willen. Der mythos hat Zeit. Religionen, wiedererstarkend, hatten tausende Jahre Zeit und die alten Mythen, die sogar als Lügen und unplausible Muster entlarvt wurden, werden so intensiv geglaubt wie lange nicht. Der Mythos ist in sich geschlossen, er bietet Sinn, was vor der nackten Sinnlosigkeit und dem Beschämen schützt, unfähig zu sein, seinen eigenen Sinn zu finden, nötigenfalls zu er-finden. Der mythos ist in jeder Hinsicht glaubwürdig, denn er verdunkelt das Geschehen. Der mythos sitzt am längeren Hebel, weil er in der menschlichen Psyche vollständig verankert ist. Der logos ist im Gegensatz dazu ein bloßes Detail des menschlichen Verstandes, welches sich möglicherweise überschätzt hat.