Mittwoch, Februar 04, 2009

Die Schulglocke läutete zum Ende. Das Schülergeschrei, gestern noch fröhlich, heute seelenlos, hallte wie ein verfluchter Geist durch die Flure zu den Ausgängen. Innerhalb weniger Minuten war das Gebäude, was noch voll Kreativität, kindlichem Übermut und erwachsener Verantwortung gewesen, tot. Tot, das war auch die treffendste Beschreibung für ihn, so fühlte er sich. Er würde nach Afrika, Gefühle suchen gehen, sich selber. Doch war das ferne Land, das in ihm immer das Bild einer roten, untergehenden, aber doch noch wärmenden Sonne hevorrief, weit weg. Das tote Steingemäuer ächzte vor Einsamkeit, die es nun für viele Stunden erwartete. Er stand unter dem großen Bogen aus Kalkstein. "Gotisch", dachte er und lehnte sich erschlafft an den linken Pfeiler, während seine Augen den unregelmäßig und hässlich gemusterten Flur hinunterglitten, den er entlang gelaufen war, als er zum ersten Mal diese Anstalt, wie er sie nur noch nennen wollte, betreten hatte. Gotisch. Er schüttelte sein lichtes, graues Haupt, verschränkte die blanken Arme, die durch die hochgekrempelten Ärmel entblößt wurden. Vor wenigen Minuten, inmitten der Schüler, inmitten der Arbeit, inmitten seines Lebens war er so eloquent, wie es einem Anstaltsleiter nur möglich war, mit umwerbenden, verständnissuchenden Gesten und schuldfühligen Augen, versteckt hinter einer teuren Brille, aus eben diesem Leben gerissen. War er denn zu sicher gewesen, zu frohlockend? War er nicht der richtige Mann? Wurde er betrogen? Dem Leiter mutig seine Gleichgültigkeit vermittelt, und doch gebrochen
gewesen. Er tat einen Schritt in den langen, gefliesten Gang, ohne Hoffnung, am anderen Ende
anzukommen. Die Füße waren bleiern und der Kopf federleicht, fast haltlos. Gotisch. Er merkte, dass er noch einige Zeit bräuchte, einen Schritt zu tun, und lehnte sich mit dem Rücken an den Pfeiler. Der Spitzbogen schien zu grienen. Wie Tobias aus der 12., der ihm gerade einen Streich gespielt hatte, flaxte der Bogen mit der Eindringlichkeit einer Ewigkeit. Tot sein heißt ewig sein. "Afrika", murmelte er nicht betrübt, sondern sehnsüchtig. Afrika, das war sein Synonym für Gefühlsfindung. Für Selbstfindung. Sein Kopf berührte den Stein, die Kälte zog sich über seinen ganzen Körper, Gänsehaut. Gestern, am Abend, hatte er noch gelacht, wie dieser Bogen, dieser von ihm so betrachtete Aufstieg würde sein Leben erleichtern. Geld, Ansehen, Einfluss. Es würde ihm besser gehen. Als seine abgewetzte und abgearbeitete Ledertasche ihm aus seinen Händen glitt, konnte er erkennen, was schief lag. Sein Leben. Die Tasche sank unsanft zu Boden, die schweren Bücher zwangen sie, sich der Schlagseite zu ergeben. Sein Leben lag schief. Zuhause, weit weg von diesem toten, leeren Haus, wo die Nachlassverwalterinnen eines Zimmermannes immerzu groteskes Theater spielten. Wartete dort nicht Afrika? Das Geräusch von Schritten, was sich ihm tief in die Seele eingebrannt hatte, seine beste Freundin und Kollegin nannte es eine Berufskrankheit, zwangen ihn, sein Menschsein zu verlassen und wieder Lehrer zu werden. Schnell griff er nach der Tasche, drehte sich vom Bogen weg, als ginge er den Gang entlang. Am Ende dieses Raumes erschien der Beförderte. Schweißperlen reflektierten auf dessen Stirn die Angst, die in ihm aufstieg, als der sich ihm näherte. Die Augen trafen sich, die kleinen, stresserfüllten, unsicheren Augen des Beförderten huschten über sein Gesicht, das eine Emotion suchte. Afrika. Den Stapel an Arbeit, den er umfingerte, entwich seinen nassen Griffeln und die Blätter verteilten sich auf dem Muster. Ungeachtet der Bemühungen des Beförderten um Schamreduzierung ging er weiter, tot. Nervös und unregelmäßig verstummten die Schritte unter der Wölbung. Er drehte sich um, dem Beförderten nachsehend. Gotisch, dachte er, doch erschien ihm der Bogen nun nicht länger verlachend, als vielmehr traurig. "Ich gehe nach Afrika", flüsterte er dem Flur zu und verließ das tote Haus. Ein Glockenschlag, doch nun ganz anders als zuvor.